Kostenloser öffentlicher Nahverkehr in Deutschland?






Bundesregierung erwägt kostenlosen öffentlichen Nahverkehr.


Die "Bundesregierung erwägt kostenlosen öffentlichen Nahverkehr". Sie tut das deshalb, weil "sie nach Mahnungen aus Brüssel mehr für saubere Luft tun muss." Schade, dass erst eine drohende Strafe sie dazu bewegt, darüber nachzudenken, wie sich die Luftqualität in deutschen Großstädten verbessern ließe ...

@freiheit50 fragt in einem Artikel zum Thema, ob die Idee eines für den Bürger kostenlosen Nahverkehrs "sexy" sei oder es sich stattdessen eher um Realsatire handele.
In meinen Augen ist sie sogar ziemlich "sexy", allerdings gebe ich gerne zu, dass sich die mit ihr verbundenen, zweifellos vorhandenen Mehrkosten nicht einfach 'wegzaubern', sondern vielleicht eher, unter Berücksichtigung der im Folgenden genannten Argumente, etwas 'entdramatisieren' lassen.


Welche Aufgaben sollte der Staat übernehmen?


Eine kritische Frage, die ich mir als jemand, der in der Regel für einen 'schlanken' Staat und möglichst niedrige Steuersätze plädiert, stellen muss, ist natürlich, welche Aufgaben der Staat überhaupt übernehmen sollte? Meiner Meinung nach gehört das zur Verfügung stellen und Instandhalten essenzieller Infrastruktur (z. B. Wasserversorgung, das Straßen- und Schienennetz oder die für ein funktionierendes - und möglichst schnelles - Internet nötigen Leitungen) dazu. In diesen Bereichen sollte sich eine Gesellschaft nicht von profitorientierten Privatunternehmen komplett abhängig machen. Wettbewerb würde weiterhin stattfinden: Eine vom Staat angebotene Internet-Infrastruktur könnten beispielsweise mehrere private Telekommunikationsunternehmen nutzen, um miteinander zu konkurrieren.

Dass die Bahn unter anderem in Frankreich oder Spanien besser funktioniert als hierzulande (wo sie bekanntlich nur vier Hauptprobleme kennt: Frühling, Sommer, Herbst und Winter ...), liegt am fehlenden Zwang, Gewinn einfahren zu müssen. Es wird als ihre gesellschaftliche Aufgabe gesehen, zu funktionieren, und das tut sie in der Regel ... und das kostet selbstverständlich dann auch etwas.

In Deutschland dagegen spart die Bahn als profitorientiertes Unternehmen, wo sie nur kann: Die Wartungsintervalle von Zügen und Gleisen werden immer länger, das Streckennetz wird ausgedünnt, Bahnhöfe vergammeln, und oft stehen nicht mehr genug Ersatzwaggons zur Verfügung, wenn sie benötigt werden. Verspätungen, Ausfälle von Teilen des Streckennetzes oder im Sommer versagende Klimaanlagen sind eher die Regel denn die Ausnahme. Um nicht völlig 'linklos' einfach Dinge zu behaupten, hier ein Beispiel unter vielen.

Statt an der (Verkehrs-)Infrastruktur anzusetzen würde ich in anderen Bereichen staatliche Ausgaben radikal streichen. Beispielsweise würde ich die ohnehin erfolglosen Arbeitsämter (Neudeutsch: Arbeitsagenturen) komplett auflösen (ein gut gemachtes Online-Job-Portal wäre völlig ausreichend und um ein Vielfaches kostengünstiger) und Finanzämter würde im Prinzip ebenfalls niemand benötigen, wenn es endlich gelänge, die Einkommensteuererklärung drastisch zu vereinfachen und die danach noch anfallenden Steuern vollautomatisiert einzuziehen.
Darüber hinaus müssten Politiker für verpfuschte Projektplanungen, wie z. B. beim Berliner Flughafen oder "Stuttgart 21", welche die Allgemeinheit teuer zu stehen kommen, persönlich haften, so dass Verschwendung von Steuergeldern mindestens ebenso hart bestraft würde wie Steuerhinterziehung.


Quelle: Pixabay.



Diskussion der Argumente, die für und gegen einen kostenlosen ÖPNV sprechen.


Dass ich selbst einen für den Nutzer kostenlosen ÖPNV trotz der damit für die Allgemeinheit einhergehenden Kosten positiv sehe, liegt unter anderem daran, dass ich ihn der oben genannten essenziellen Infrastruktur zuordne.

Hier nun einige Argumente, die aus meiner Sicht für einen kostenlosen ÖPNV sprechen:

  • Der Hauptvorteil einer verstärkten Nutzung des ÖPNV liegt auf der Hand: Sitzen viele Menschen in einem Fahrzeug, laufen weniger Schadstoff emittierende Motoren parallel als wenn stattdessen viele Fahrzeuge mit wenigen Insassen unterwegs sind. Weniger Fahrzeuge führten außerdem zu weniger Staus in den Städten.

  • Da die von Bussen pro Tag zurückgelegten Strecken klar definiert sind (d. h. viel schwächer variieren als die des Individualverkehrs), bietet sich mittelfristig die Nutzung von Elektromotoren an. Die Busse könnten sehr einfach über Nacht in ihrem Depot aufgeladen werden, wonach wieder genug Energie für den nächsten Tag zur Verfügung stünde. Leider hinkt Deutschland im Bereich Elektromobilität hinterher. Städte sollten nicht darauf warten, bis verschlafene deutsche Anbieter endlich konkurrenzfähige Elektrobusse anbieten, sondern sich am Beispiel Londons und vieler anderer Großstädte orientieren, die auf zuverlässige E-Busse von BYD setzen, welche für den Alltag absolut brauchbare Reichweiten von bis zu 400 km aufweisen. Die höheren Anschaffungspreise der Elektrobusse werden im Laufe einiger Jahre durch niedrigere Betriebskosten kompensiert.
    Das chinesische Shenzhen stellt übrigens bereits zu 100% auf Elektrobusse um.
    Wenn unter diesen Bedingungen (Verzicht auf Dieselbusse) mehr Menschen vom eigenen Auto auf den ÖPNV umstiegen, würde sich das in Form sauberer Luft (und weniger Lärm) spürbar bemerkbar machen. Sobald die Hersteller die Nachfrage befriedigen können, gilt dasselbe für Busse mit Brenstoffzellenantrieb.

  • Bezüglich des Arguments des durch diese Maßnahme wachsenden Bedarfs an Bussen zu 'Stoßzeiten' frage ich mich, warum in Deutschland ein derartiger Frühaufsteher-Wahn herrscht, dass tatsächlich fast alle Arbeitenden mehr oder weniger gleichzeitig frühmorgens zur fahren Arbeit müssen, wo doch eine Mehrheit deutlich später aufstehen würde, wenn sie könnte? :)
    An die Bedürfnisse der Menschen angepasste flexiblere Arbeitszeiten und mehr Heimarbeit könnten dabei helfen zu verhindern, dass es überhaupt 'Stoßzeiten' geben muss.

  • Ein - für die Nutzer - kostenloser ÖPNV würde die Allgemeinheit einiges kosten ... Allerdings dürften einige kostensenkende Parameter bei den nötigen Berechnungen ebenfalls nicht vernachlässigt werden: Fahrkartenkontrolleure, teure Fahrkartenautomaten sowie deren Wartung entfielen. Atemwegs- und andere durch schlechte Luftqualität verursachte Erkrankungen träten seltener auf, wodurch das Gesundheitssystem entlastet würde. Hartz 4-Empfänger, z. B. Erwerbslose, die zusätzlich einen Mini-Job verrichten oder "Aufstocker", können sich angefallene Fahrtkosten zu ihrer Arbeitsstelle erstatten lassen. Kosten, die im Falle eines kostenlosen ÖPNV entfielen ... ebenso wie der mit den Anträgen auf Erstattung verbundene Verwaltungsaufwand.

  • Aus der Perspektive eines Autofahrers mag es ungerecht erscheinen, für den von ihm nicht genutzten öffentlichen Nahverkehr mitzahlen zu müssen. Allerdings würde er von sauberer Luft und weniger Staus in seinem Wohngebiet profitieren, auch wenn er selbst weiterhin seinen PKW verwendete - zusätzlich hätte er nun aber auch selbst die Möglichkeit, öfter mal sein Auto einfach stehen zu lassen und kostenlos mit dem Bus zu fahren.


BYD-Bus, London.

Quelle: Wikimedia Commons (author: Au Morandarte from Chiswick/Romford, London, England - London General EB1 on Route 507, Victoria, uploaded by Ultra7).



Estland macht es vor!


In einem lesenswerten Interview erklärt der Chef der Verkehrsbetriebe Tallinns, der estnischen Hauptstadt, weshalb sich dort die Einführung eines kostenlosen öffentlichen Nahverkehrs im Jahr 2013 als vorteilhaft erwiesen hat.

Ich fasse kurz zusammen: Eine vierköpfige Familie spare dadurch pro Jahr ein Monatseinkommen ein, und durch dieses den Bürgern zusätzlich zur Verfügung stehende Geld werde die Wirtschaft angekurbelt. Während die Nutzung des ÖPNV zugenommen habe, stagnierten, im Gegensatz zu anderen Städten, die PKW-Neuzulassungen. Tallinn gehöre inzwischen zu den zehn europäischen Städten mit der besten Luftqualität (der vom Busverkehr verursachte Schadstoffausstoß sei von 9 auf 2 % verringert worden). Aufgrund der besseren Lebensqualität seien zahlreiche Menschen zugezogen, wodurch sich die Steuereinnahmen signifikant erhöht hätten.

Die Tallinner Transportgesellschaft erzielte im Jahr 2016 gar einen Gewinn von 13,7 Millionen Euro, da der ÖPNV zwar für Anwohner, nicht jedoch Touristen kostenlos ist.


Schlussbemerkungen.


Wie beschrieben halte ich die Idee eines kostenlosen (bzw. steuerfinanzierten) ÖPNV, trotz des nicht so einfach beiseite zu schiebenden Gegenarguments hoher Kosten, durchaus für "sexy", verspüre jedoch das starke Bedürfnis, klarzustellen, dieses Attribut der GroKo (meines Erachtens ein Garant für gähnende Langeweile und Stagnation Deutschlands) keinesfalls zuzugestehen!
Erst auf Druck der EU hin wurde die Regierung überhaupt aktiv, um nun die Idee eines "fahrscheinlosen ÖPNV" vorzustellen, die meines Wissens bereits vor langer Zeit von der Piratenpartei ins Spiel gebracht wurde und weiterhin verfolgt wird.
Darüber hinaus stimme ich zu, dass ein kostenloser ÖPNV als isolierte Maßnahme nicht ausreicht, um das Problem der immer schmutziger werdenden deutschen Städte zu lösen.
Gegen betrügerische Autofirmen müsste mit derselben Härte vorgegangen werden wie in den USA, statt deren Vorgehensweise, zu Lasten des Kunden, teilweise sogar zu unterstützen oder zumindest zu vertuschen und zugleich die Verbreitung von auf alternativen Antrieben basierenden Fahrzeugen auf deutschen Straßen zu verzögern.

Leider werden in zahlreichen deutschen Städten nicht nur die NO2-Grenzwerte überschritten, sondern überdies nimmt auch die Verschmutzung mit achtlos liegengelassenem oder gar bewusst weggeworfenem Müll zu.
Geht es beispielsweise um sachgerechte Müllentsorgung oder die Filterung von Kraftwerksemissionen, weist unser, sich so gerne als Vorreiter des Umweltschutzes gerierendes Land erschreckende Defizite auf.
Es ist spannend zu beobachten, wie sich das oft noch immer als 'Umweltsünder Nummer eins' angesehene China bezüglich Umweltschutz langsam zum Positiven hin entwickelt, während Deutschland in vielen Bereichen "den Weg noch vor sich" hat.

H2
H3
H4
Upload from PC
Video gallery
3 columns
2 columns
1 column
156 Comments